HS über Fotografie

Mit Fotografie(n) leben

Fotografie ist Bestandteil unseres Alltags, als Aktivität und auch als mehr oder weniger bewußte und gezielte Rezeption: wir gehen damit ganz selbstverständlich um wie mit unserem Auto. Und so, wie wir selbst als engagierte Fußgänger ständig mit Verkehr konfrontiert werden, so haben wir es als Fotografierende oder aber auch als Nicht-Fotografierende ständig mit Fotografie zu tun: von der morgentlichen Zeitungslektüre über die Aggression der Werbung auf unseren täglichen Wegen bis hin zum abendlichen Fernsehprogramm. Gehen wir deswegen so oberflächlich mit Fotos um? Können wir uns überhaupt vorstellen, wie bildarm die Menschen vor der Erfindung der Fotografie und selbst noch bis zur Erfindung ihrer gedruckten Reproduktion gelebt haben und welchen beständigen Bildhunger sie also verspürt haben müssen? (Aus: „Fotografie als Lebenskunst“ – Vortrag, gehalten am 3o.1.2008 bei REFLEX e.V., Hannover)

„Erkenne dich selbst“

Fotografie ist für mich eine Möglichkeit der Selbsterforschung. Ich fotografiere immer seltener , um einen Lebensmoment für die Erinnerung festzuhalten. Sondern es geht bei mir zunehmend so: ein Phänomen der äußeren Welt – auf die die Fotografie ja immer angewiesen ist – trifft mich und läßt mich zur Kamera greifen (wenn ich eine dabei habe oder meine Begleitung nicht zu ungeduldig ist – ansonsten mache ich mir einen Knoten ins Taschentuch: wiederkommen mit Kamera und ohne Begleitung). Der Knoten kann sich auch von selbst knüpfen, sogar ohne daß ich es zunächst bemerke: dann macht er von Zeit zu Zeit auf sich aufmerksam, bis ich seinen Hinweis nicht mehr verdrängen kann, die Kamera einpacke etc.
Es scheint, als gäbe es nicht nur auf einem Foto ein „punctum“ (Roland Barthes), das wie ein Stachel im Betrachter stecken bleibt, sondern auch in der äußeren Welt: B.Brechts Sonett „Entdeckung an einer jungen Frau“ kommt einem da in den Sinn.
Jedes Foto, das ich mache, ist offenbar zustande gekommen dadurch, daß irgend etwas in der von mir wahrgenommenen Welt, also eine Art „punctum“ mich dazu bewogen hat, es zu machen.
Die Frage, die ich oft nicht sogleich beantworten kann, ist die: was hat mich dazu bewogen, dieses Foto zu machen? Welche bewußten oder unbewußten Ängste, Sehnsüchte, Begierden, Erfahrungen, Hoffnungen, Ressentiments, Abneigungen? Was in mir spricht es an? Wofür ist es ein Zeichen? Eine Hieroglyphe? Würde es sich mit anderen Fotos, bereits gemachten oder noch zu machenden, in eine Allegorie verwandeln? Etc.
Eines scheint sicher zu sein: Ich muß mich hüten vor dem, was Roland Barthes die „einförmige Photographie“ nennt, eine solche, die „vollkommen in der Zurschaustellung einer einzigen Sache auf(geht)“. Denn da wäre für mich nichts zu gewinnen, kein Aufschluß über mich. Es hätte ja gar nichts mit mir zu tun, sollte mich also – im Sinne Montaignes – nicht wirklich interessieren.

Mit Goethe fotografieren

Wenn Fotos der Selbsterforschung des Fotografen (und vielleicht einiger Betrachter) dienen, entspringen sie mit einiger Sicherheit einer Begegnung des Fotografen mit fotografierbarer Welt, die (zunächst) ihn anrührt, deren Bedeutung sich aber vielleicht nicht einmal ihm selbst sofort erschließt. Begegnung aber ist nie planbar; sie ist zufällig, schicksalhaft wie in der Liebe der „coup de foudre“, weshalb es folgerichtig im Deutschen heißt: Den hat’s aber ganz schön erwischt!
Goethes Gedicht „Gefunden“ läßt sich wie ein Haltungscode für den an Selbsterfahrung interessierten Fotografen lesen: Da geht einer im Wald so vor sich hin, will gar nichts suchen und kommt genau dadurch zu seinem „Blümchen“, das er liebevoll ausgräbt und nach Hause trägt. Goethe schrieb das im Jahre 1813: da war es nicht mehr weit bis zur Erfindung der Fotografie.
Während aber einerseits das bewußte Suchen nach einer Begegnung kaum zum Erfolg führt, ist andererseits doch sicherlich die Empfänglichkeit für eine solche positiv beeinflußbar: durch eine Haltung der Sammlung, des Absehens von allem Zerstreuendem, der Konzentration auf das in jedem Moment Erscheinende.

Was ist von einem Foto überhaupt zu erwarten?
Ist es nicht so, daß wir oft fotografieren, um das, was wir zu kennen meinen, dieses ‚Bild‘, das wir von etwas oder jemandem haben (vgl. M. Frisch), in einem Foto zu verewigen? Fotos dienen heute in der Mehrzahl nicht dazu, vorgefaßte Bilder, Meinungen, Überzeugungen, Klischees etc. in Frage zu stellen, sie wieder rätselhaft zu machen, das, was diese Fotos zeigen, als erst noch zu Verstehendes – und insofern vielleicht sogar Beunruhigendes – vorzuführen. Wehe dem Fotografen, der das Bild, das sich der Betrachter von sich selbst – oder irgend etwas auf dieser Welt – macht, nicht trifft. Eine Art von horror vacui entsteht, ein Schwindel, Angst davor, sich mit etwas für bekannt, ja vertraut Gehaltenem neu auseinandersetzen zu müssen. Das Ideal so vieler Fotografierender und Fotografierter scheint die direkteste, umwegloseste Verbindung zwischen einem Foto und dem Klischee, das sie von dem Motiv in ihrem Kopf haben, zu sein.
Aber:
Fotos müssen nicht notwendig Klischees bestätigen.
Fotos müssen nicht notwendig die Realität verbergen (wie B.Brecht das annahm). Fotos müssen nicht notwendig als (falsche) Beweise für die Zeitenthobenheit von etwas gelten (Proust/Brassai).
Denn:
Fotos können, zufolge ihrer unlösbaren Verbundenheit mit der sichtbaren Welt und zufolge des mechanisch desinteressierten ‚Blickes‘ des Kameraobjektivs, Dinge sichtbar machen, die das bewußte, lebendige Auge gerne ausblendet. (W. Benjamin vergleicht die Fotografie daher mit der Psychoanalyse und S. Dalì sie mit „authentischer Poesie“.) Die scheinbar dem realen verbundene Fotografie enthüllt Sur-reales, das will hier besagen: Wahrheit über die Realität (ebd.).

Vorsicht: Lebensgefahr!
Fotografie, die hinter die Fassade unseres gewöhnlichen Sehens blickt, kann dem Fotografen, der sein Foto betrachtet (aber auch irgendeinem Betrachter) Dinge, Gefühle u.a. zeigen, die er vielleicht gar nicht sehen möchte oder zu sehen ertragen kann.
Fotografie mag ein gutes Mittel gegen Langeweile sein, aber auch lebensgefährlich, wie das Schicksal der Fotografin Diane Arbus zeigt.